Reaktionen auf die BVerfG-Entscheidung
Die Entscheidung des BVerfG zur Unzulässigkeit einer nur binären Erfassung von “Geschlecht” im Personenstand hat ein erhebliches Medienecho gefunden, sehr viel stärker als die BGH-Entscheidung letzten Sommers, eher schon vergleichbar den diversen Toiletten-Debatten 2013, 2015 und 2016 (habe ich 2014 und diesen Sommer in der Blogpause etwas verpasst?). Wie schon damals oder ganz allgemein: beim Thema Geschlecht sind auch diesmal manche Kommentarspalten schnell mit heftigen, nicht immer druckreifen (im Netz aber meist dennoch publizierten) Meinungen gefüllt gewesen. Vor allem aber sind in der Berichterstattung auch viele gute und lesenswerte Beiträge zu finden.
Eine Woche nach dem Urteil hier nun eine erste Zusammenstellung v.a. deutsch- und englischsprachiger Beiträge. Ich danke Marion Hulverscheidt und Konstanze Plett für Hinweise, weitere Links oder andere Nachweise können gerne über die Kommentarfunktion hinzugefügt werden. Eine weitere kommentierte Übersicht auf Englisch ist geplant, vorerst konzentriere ich mich auf die deutschsprachige Presse.
Pressespiegel der Aktion “Dritte Option”
Umfangreicher, laufend aktualisierter Pressespiegel (Presse Print und online, TV usw.) von “Dritte Option”: http://dritte-option.de/weiterfuhrendes/presse/
Kommentierte Hinweise auf deutschsprachige Zeitungen
- FAZ vom 10.11.2017: Die FAZ veröffentlichte einen klugen Kommentar von Stefan Hirschauer (nicht frei im Netz verfügbar), der die Entscheidung des BVerfG aus soziologischer Sicht in eine longue durée der Differenzierung einbettet und den langen Trend der Abnahm der “identitären Relevanz” von Geschlecht im Kontext von Individualisierung und anderen, für moderne Identität relevantere Differenzierungen (Beruf, Bildung, religiöse und poitische Überzeugungen). Wie bei anderen, einst strikten und/oder binären Differenzierungen (Rasse, Religion, Sexualität) sei beim Geschlecht der Raum zwischen den Geschlechtern größer, die Nichtfestlegung häufiger, die Relevanz der Differenz geringer geworden, das Urteil mithin “eine kulturell schon lange naheliegende Korrektur”, ob nun ein drittes Geschlecht eingeführt oder die Registrierung von Geschlecht ganz aufgegeben werde.
- NZZ vom 08.11.2017: , Leiter der Auslandredaktion der NZZ in Zürich, kritisiert in gemessenem, aber deutlichem Ton, wie stark das Gericht von Folgekosten abstrahiert habe und wundert sich, wie hoch das BVerfG den Einfluss von Personenstandseinträgen auf individuelle Identität angesetzt habe. Während zusätzliche Geschlechter im Recht nach Einschätzung Rasonyis zu einem “Knäuel von Widersprüchen, Willkür und Masslosigkeit” führen könnte, beurteilt er die Möglichkeit, ganz auf eine personenstandsrechtliche Erfassung von Geschlecht zu verzichten, positiv.) https://www.nzz.ch/meinung/das-bundesverfassungsgericht-schafft-ein-willkuerliches-drittes-geschlecht-ld.1327250
- NZZ vom 12.11.2017: Wie soll es denn heißen? von Silke Mertins. Und: Weltweite Debatte um Zwangsoperationen von Matthias Knecht.
- ZEIT online vom 08.11.2017: Die ZEIT bietet im wesentlichen eine Zusammenfassung des Urteils, aber wiederholt mit der irrtümlichen Lesart, es müsse nun ein drittes Geschlecht im Recht eingeführt werden; tatsächlich hat das BVerfG ausdrücklich auch darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber auf die Erfassung von Geschlecht als Personenstandsmerkmal verzichten könne. Bemerkenswert zahlreich sind die Kommentare, bereits am 10.11.2017 waren es über 2000, viele davon abwehrend: nichtbinäre Geschlechtseinträge Dritter werden von einer erheblichen Zahl der Kommentierenden als unwichtig, gleichzeitig sehr verstörend wahrgenommen. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-11/bundesverfassungsgericht-fuer-drittes-geschlecht-im-geburtenregister
- SZ.de vom 08.11.2017: Die Sz bietet ebenfalls einen Überblick, und geht wie die ZEIT davon aus, dass ein drittes Geschlecht eingeführt werden müsse. Der Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass auf eventuelle Problemfelder eingegangen wird, wie etwa Namensgebung, Ehehschließung oder Elternschaft. http://www.sueddeutsche.de/panorama/intersexualitaet-heraus-aus-dem-schatten-der-nichtanerkennung-1.3740541
- SZ.de vom 09.11.2017: Interview mit Julia Steenken von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, die nach der Abschaffung der rechtlichen nun auch auf ein Ende der gesellschaftlichen Diskriminierung im Alltag hofft und dabei auch auf die Wirkung des Urteils vom BVerfG setzt. http://www.sueddeutsche.de/leben/drittes-geschlecht-die-gesellschaft-hat-eine-bringschuld-neue-formen-des-umgangs-zu-finden-1.3742698
- Verfassungsblog Online-Symposium, Auftaktartikel vom 12.11.2017: Startet mit einem Hinweis auf das Timing der Veröffentlichung des Urteils des BVerfGs am Intersex Day of Solidarity. Das Urteil wird als “epochale Entscheidung” für “die demokratische Gesellschaft” bezeichnet. Der Post kritisiert darüber hinaus die bislang undeutliche Regelungslage. Für die verfassungsrechtliche Umsetzung werden Neuregelungsoptionen, gestützt etwa auf eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, gegeben. Das Hinzufügen einer Dritten Option sei “der Weg des geringsten Widerstandes”. Insgesamt wird das Urteil zum Personenstandsrecht nur als Beginn einer die gesamte Rechtsordnung betreffenden Entwicklung gesehen. http://verfassungsblog.de/nicht-mann-nicht-frau-nicht-nichts-ein-verfassungsblog-symposium/
- Im Deutschlandfunk Kultur vom 08.11. äußert sich Konstanze Plett ebenfalls positiv zu den Auswirkungen auf alle Bereiche der Rechtsordnung, etwa auch auf den Alltag und hofft auf eine gesetzliche Stärkung der Akzeptanz von Intersexuellen. http://www.deutschlandfunkkultur.de/rechte-von-intersexuellen-geschlecht-ist-mehr-als-ein.2165.de.html?dram:article_id=400158
- Welt.de vom 08.11.2017: https://www.welt.de/politik/deutschland/article170425285/Bundesverfassungsgericht-fordert-drittes-Geschlecht-im-Geburtenregister.html
- Welt.de vom 14.11.2017: https://www.welt.de/kultur/article170580038/Das-Missverstaendnis-um-die-Biologie-des-dritten-Geschlechts.html
- Tagesschau vom 08.11.2017: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-345027.html
- Spiegel Online vom 08.11.2017: Das dritte Geschlecht. Was bedeutet Intersexualität? http://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/das-dritte-geschlecht-was-bedeutet-intersexualitaet-a-1177033.html
- Spiegel Online vom 14.11.2017: Alle gewinnen. Kolumne von Margarete Stokowski: “Unverständlich, dass manche Menschen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Intersexualität kritisieren. Es wird doch niemandem etwas weggenommen, wenn es eine Option mehr gibt.” Bisher 170 Kommentare. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/intersexualitaet-alle-gewinnen-kolumne-a-1177887.html
Englischsprachige Medien
- OII has an international newsfeed (mainly English and French language media): https://oiiinternational.com/. So far, surprisingly little on the decision by the German constitional court, safe for a Joint statement by the German branch of OII and other German groups (in English): https://oiigermany.org/pressemitteilung-zum-beschluss-des-bundesverfassungsgerichts/
- BBC vom 08.11.2017: http://www.bbc.com/news/world-europe-41912754
- CNN vom 08.11.2017: http://edition.cnn.com/2017/11/08/europe/germany-court-intersex-children/index.html
- Daily Mail vom 08.11.2017: http://www.dailymail.co.uk/news/article-5061401/Top-German-court-strengthens-intersex-identity-rights.html
- Deutsche Welle vom 08.11.2017: http://www.dw.com/en/germanys-intersex-verdict-every-person-has-a-gender/a-41300294 (mit Auszügen aus einem Interview with Lucie Veith)
- New York Times vom 08.11.2017: https://www.nytimes.com/2017/11/08/world/europe/germany-third-gender-category-vanja.html
- Telegraph vom 08.11.2017: http://www.telegraph.co.uk/news/2017/11/08/germany-must-legally-recognise-third-gender-birth-top-court/
- Der online-Auftritt von NPR (der US-amerikanische Zusammenschluss von Radiostationen, der nicht mehr National Public Radio heißt) hat einen relativ ausführlichen Bericht, der US-amerikanische Parallelen zitiert:
An Oregon judge ruled in June 2016 that Jamie Shupe could legally change their gender to nonbinary — considered a first in the United States.
And in December, what’s thought to be the first intersex birth certificate in the U.S. was issued to Sara Kelly Keenan, born in New York City 55 years earlier. A California judge ruled in September 2016 that Keenan could legally change her gender to nonbinary.
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Christof Rolker (15. November 2017). Reaktionen auf die BVerfG-Entscheidung. Männlich-weiblich-zwischen. Abgerufen am 5. Dezember 2024 von https://doi.org/10.58079/qdqf
